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Wann kann ein Erblasser nicht lesen?

 
 

Der Oberste Gerichtshof nimmt Klarstellungen zur Frage vor, unter welchen Voraussetzungen bei physisch bedingter Beeinträchtigung der Lesefähigkeit der Erblasser die besondere Testamentsform des § 580 Abs 2 ABGB einhalten muss.

Der Erblasser litt im Jahr 2019 an einer Makuladegeneration an beiden Augen. Sein rechtes Auge hatte nur noch einen Visus von „Fingerzählen“, das linke Auge einen Visus von 0,1 (was 10 % Sehschärfe entspricht). Die ihm zur Unterschrift vorgelegten fremdhändigen letztwilligen Verfügungen konnte er daher nicht lesen.

Die Vorinstanzen gingen von der Unwirksamkeit der im Jahr 2019 errichteten letztwilligen Verfügungen aus, weil die Formvorschriften des § 580 Abs 2 ABGB nicht eingehalten wurden.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung.

Nach § 580 Abs 2 ABGB muss sich, wer nicht lesen kann, die fremdhändige Verfügung von einem Zeugen in Gegenwart der beiden anderen Zeugen, die den Inhalt eingesehen haben, vorlesen lassen und bekräftigen, dass dieser seinem Willen entspricht.

Der Senat bildete folgenden Rechtssatz:

Zur Annahme von Leseunfähigkeit in Form „physischer Unfähigkeit“ nach § 580 Abs 2 ABGB ist eine gewisse Schwere der Sehschwäche erforderlich, die durch Zuhilfenahme einfacher Hilfsmittel (etwa einer Brille oder von Kontaktlinsen) nicht mehr ausgeglichen werden kann. Billigerweise nicht zuzumuten ist dem letztwillig Verfügenden in aller Regel die Verwendung ganz besonderer, in seinem Alltag nicht gebräuchlicher technischer Hilfsmittel (etwa die ganz massive Vergrößerung der Schriftgröße auf einem Bildschirmgerät). Verwendet der letztwillig Verfügende jedoch im Einzelfall solche (besonderen) Hilfsmittel, die ihn in die Lage versetzen, die konkrete letztwillige Verfügung tatsächlich lesen zu können, steht ihm die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB nicht zur Verfügung.

Im Anlassfall litt der Erblasser an schwerer Makuladegeneration an beiden Augen und konnte letztwillige Verfügungen (in gängiger Schriftgröße) – und damit auch die ihm zur Unterschrift konkret vorgelegten letztwilligen Verfügungen – weder unter Zuhilfenahme einer Brille noch einer Lupe lesen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Erblasser iSd § 580 Abs 2 ABGB nicht lesen konnte und damit die dort normierten Formvorschriften einzuhalten gewesen wären. Die Testamente sind damit formungültig.

Zum Volltext im RIS.

 
ogh.gv.at | 15.11.2024, 14:11
(https://www.ogh.gv.at/entscheidungen/entscheidungen-ogh/wann-kann-ein-erblasser-nicht-lesen/)

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