Anhalten eines „Schwarzfahrers“ durch Kontrollorgane
Das kurzfristige Anhalten eines „Schwarzfahrers“ durch Kontrollorgane einer Straßenbahn AG zur Identitätsfeststellung durch die Polizei ist durch das Selbsthilferecht gemäß §§ 19, 344 ABGB gerechtfertigt.
Das Landesgericht Linz hatte den Angeklagten der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und der versuchten Nötigung nach § 15, 105 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach dem Schuldspruch hatte er versucht, Kontrollore der Stadt Linz AG, die ihn im Haltestellenbereich einer Straßenbahn kontrollieren wollten, durch Gewaltanwendung zur Abstandnahme von einer Fahrscheinkontrolle zu nötigen, und diese dabei am Körper verletzt.
Das Oberlandesgericht Linz hob diese Entscheidung aus Anlass einer dagegen ergriffenen Berufung des Angeklagten auf und verwies die Sache an das Erstgericht zurück. Der Gerichtshof begründete dies damit, dass das Erstgericht rechtsirrig ein Anhalterecht nach § 86 Abs 2 StPO wegen des Verdachts einer mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlung angenommen habe. Ein Ausweichen vor dem herannahenden Schaffner ohne Vorspiegelung von Tatsachen, die Anspruch auf Beförderung geben, stelle aber bloß eine Verwaltungsübertretung nach Art IX Abs 1 Z 2 EGVG dar. Auch ein Festnahmerecht nach § 35 VStG komme den im Auftrag der Linz AG tätigen Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsunternehmens nicht zu. In diesem Zusammenhang wäre der Angeklagte daher zur Notwehr berechtigt gewesen.
Der Oberste Gerichtshof stellte – vom Generalprokurator durch eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes angerufen – fest, dass das Urteil des Oberlandesgerichtes mit dem Gesetz nicht im Einklang stand.
Dieses hätte nämlich auch das Recht zur Selbsthilfe gemäß §§ 19, 344 ABGB in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Dieses Selbsthilferecht dient der Bewahrung und Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche durch angemessene private Gewaltausübung für den Fall des Zuspätkommens behördlicher Hilfe.
Das Anhalten einer erwachsenen Person, deren Identität nicht bekannt ist und die einer Verwaltungsübertretung nach Art IX Abs 1 Z 2 EGVG („Schwarzfahren“) dringend verdächtig ist, durch Kontrollorgane im Auftrag eines Massenbeförderungsunternehmens bis zum Eintreffen der Polizei soll die – mangels Kenntnis der Identität sonst nicht realisierbare – Durchsetzung eines zivilrechtlichen Anspruchs des Transportunternehmens gegen den „Schwarzfahrer“ in der Höhe des Fahrpreises und eines allenfalls vorgesehenen Zuschlags sichern.
Das kurzfristige Anhalten eines „Schwarzfahrers“ zur Identitätsfeststellung durch die Polizei wird als angemessen zu qualifizieren sein, weil es einerseits in der Regel das gelindeste (und einzige) Mittel zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes ist und andererseits bei fehlender Durchsetzungsmöglichkeit von zivilrechtlichen Ansprüchen eines Straßenbahnbetriebes gegen Schwarzfahrer mangels Kenntnis der Identität des entsprechend Verdächtigen die Aufrechterhaltung dieser Form städtischen Verkehrs überhaupt in Frage stehen würde.
Sollte demnach die Anhaltung durch Kontrollorgane einer Straßenbahn AG bis zum Eintreffen der Polizei die tatbestandliche Mindestdauer einer Freiheitsentziehung im Sinne des § 99 Abs 1 StGB erreichen, so wird diese Freiheitsbeschränkung – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – als Selbsthilfe im Sinne der §§ 19, 344 ABGB gerechtfertigt sein.