Betreuungsinstitution trifft keine Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB über eine behinderte volljährige Person
Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht, wobei die Wertungen der UN-Behindertenkonvention zu berücksichtigen sind.
Ein volljähriger Behinderter wurde in der Werkstätte der Beklagten betreut. Der Betreute hatte mit Mitarbeitern der Beklagten ein wochenlanges „Einkaufstraining“ absolviert, um auf das Allein-Einkaufen-Gehen vorbereitet zu sein.
Am Unfalltag traf ein Mitarbeiter der Beklagten die Entscheidung, dass der Betreute allein einkaufen gehen durfte, nachdem dieser seinen Blutzucker gemessen und eine Jause bekommen hatte. Die Klägerin ist Halterin eines Pkw, in dem sie als Beifahrerin mitfuhr. Der Lenker konnte den (im Zuge des selbständigen Einkaufs) die Straße überquerenden Betreuten nicht wahrnehmen. Er reagierte bei erster möglicher Sicht auf den die Fahrbahn querenden Betreuten mit einer Vollbremsung, wobei er die Kollision nicht vermeiden konnte.
Die Klägerin begehrte von der beklagten Betreuungseinrichtung infolge Verletzung ihrer Aufsichtspflicht über den Betreuten Schadenersatz.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es verneinte eine Haftung nach § 1309 ABGB, weil für die Mitarbeiter der Beklagten die mangelnde Verkehrsfähigkeit des Betreuten nicht erkennbar gewesen sei.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es mit Zwischenurteil das Leistungsbegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte. Es bejahte eine Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten, weil ein „maßgerechter“ Aufsichtspflichtiger die konkrete Gefahrenlage und damit die Möglichkeit eines schädigenden Verhaltens des Betreuten anders eingeschätzt hätte.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten Folge und stellte im Ergebnis die klageabweisende Entscheidung des Erstgerichts wieder her:
Eine privatrechtliche Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB von Betreuungseinrichtungen gegenüber den von ihnen betreuten volljährigen Personen besteht regelmäßig nicht, weil eine solche weder – anders als etwa im hoheitlichen Bereich zum Beispiel nach dem Unterbringungsgesetz – gesetzlich statuiert noch typischerweise vertraglich vereinbart wird. Daher ist insofern auch eine Verletzung der Aufsichtspflicht ausgeschlossen.
Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht. Bei deren Konkretisierung sind die Wertungen der UN-Behindertenkonvention, insbesondere das Recht einer behinderten Person auf volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherstellung ihrer persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung, zu berücksichtigen. Anhaltspunkte für eine Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, weil Mitarbeiter den Betreuten allein einkaufen gehen ließen, bestehen nicht. Vielmehr haben sie dadurch dem volljährigen Behinderten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen wollen und damit entsprechend den Grundsätzen der UN Behindertenkonvention gehandelt.