„Hauptsächliche Betreuung“ auch bei „Doppelresidenz“ notwendig
Auch bei Zugrundelegung der Auslegung des Verfassungsgerichtshofs ist die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung eines Kindes durch einen der getrennt lebenden Elternteile, sei diese auch bloß nomineller Natur zur Schaffung eines Anknüpfungspunkts für verschiedene Rechtsnormen, jedenfalls erforderlich.
Nach der Scheidung 2008 vereinbarten die Eltern, den gemeinsamen Sohn je zur Hälfte zu betreuen, der „hauptsächliche Aufenthalt“ sollte bei der Mutter sein. Entsprechend dieser – vom Gericht genehmigten – Regelung übten sie die gemeinsame Obsorge aus, wobei der Sohn abwechselnd je eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter lebte. Im Jahr 2011 übertrug das Pflegschaftsgericht über ihren Antrag der Mutter die alleinige Obsorge, weil eine gemeinsame Obsorge gegen den Willen eines Elternteils (nach damaliger Rechtslage) nicht beibehalten werden konnte. An der faktischen Betreuung des Sohnes (wöchentlicher Wohnungswechsel) änderte sich bis zuletzt nichts.
Der Vater beantragte 2013 die Übertragung der alleinigen Obsorge, hilfsweise die Wiederherstellung der gemeinsamen Obsorge mit hauptsächlichem Aufenthalt des Sohnes im Haushalt des Vaters, allenfalls den jährlichen Wechsel des hauptsächlichen Aufenthalts bei Vater und Mutter.
Das Erstgericht ordnete (wieder) die gemeinsame Obsorge für den Sohn mit der hauptsächlichen Betreuung im Haushalt der Mutter an. Die seit langem durchgeführte gleichteilige und wöchentlich wechselnde Betreuung entspreche dem Kindeswohl, die hauptsächliche Betreuung bei der Mutter sei aus Gründen der Kontinuität und wegen der laufenden Unterhaltsleistung des Vaters und des Beihilfenbezugs der Mutter sachgerecht. Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss mit der Maßgabe, dass „soweit gesetzliche Bestimmungen an eine hauptsächliche Betreuung des Kindes im Haushalt eines Elternteils anknüpfen, diese der Mutter zukomme“.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidung des Rekursgerichts.
Der Verfassungsgerichtshof wies den Antrag des Rekursgerichts ab, die gesetzlichen Bestimmungen aufzuheben, die eine Festlegung eines „hauptsächlichen Aufenthalts“ des Kindes bei gemeinsamer Obsorge getrennt lebender Eltern anordnen. Diese Gesetze seien nicht verfassungswidrig, weil sie dahin ausgelegt werden können, dass sie (nur) als Festlegung eines Anknüpfungspunkts für bestimmte Rechtsfolgen, wie etwa für die Bestimmung eines Hauptwohnsitzes nach Art 6 Abs 3 B-VG, dienten, was als verhältnismäßige Beschränkung der elterlichen Grundrechte zu beurteilen sei. Diese Auslegung im Sinn der Zulässigkeit der „Doppelresidenz“, wenn sie dem Kindeswohl am besten entspricht, verhilft dem gesetzlichen Leitprinzip des Kindeswohls zum Durchbruch. Auch nach dieser Auslegung des Verfassungsgerichtshofs ist es aber erforderlich, die „hauptsächliche Betreuung“ durch einen der getrennt lebenden Elternteile festzulegen, um für andere rechtliche Bestimmungen einen Anknüpfungspunkt zu schaffen, mag diese Festlegung im Hinblick auf die tatsächliche Betreuung des Kindes auch bloß nomineller Natur sein. Für einen jährlichen oder sogar kürzerfristigen Wechsel dieses Anknüpfungspunkts zwischen Mutter und Vater fehlt nicht nur eine gesetzliche Grundlage, er widerspräche auch dem Erfordernis stabiler und kontinuierlicher Verhältnisse für das Kind und seine tatsächliche Betreuung.