Immissionsabwehrklage betreffend ein ausländisches Atomkraftwerk
Ob nach den Umständen des Einzelfalls die für den Erfolg einer Unterlassungsklage (Immissionsabwehrklage – ausländisches Atomkraftwerk) erforderliche ernste Besorgnis einer Gefährdung besteht, ist nach deren Eintrittswahrscheinlichkeit, dem Ausmaß einer zu erwartenden Rechtsgutverletzung und der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts innerhalb eines beweglichen Systems zu beurteilen. Je wertvoller das potentiell bedrohte Rechtsgut ist, desto eher hat der potentielle Schädiger auch Handlungen zu unterlassen, die nur mit einiger Wahrscheinlichkeit den schädlichen Erfolg herbeiführen können.
Die Erstklägerin ist Eigentümerin, die Zweitklägerin Mieterin einer Wohnung in Wien. Die Beklagte betreibt ein Atomkraftwerk (AKW) in der slowakischen Republik, etwa 150 km von Wien entfernt. Desen Betrieb wurde von der slowakischen staatlichen Aufsichtsbehörde genehmigt. Ausländern kam im Genehmigungsverfahren keine Parteistellung zu. Nach den in erster Instanz getroffenen Feststellungen soll – wegen der nicht bewiesenen Einhaltung internationaler Standards – ein erhöhtes Störfallrisiko bestehen.
Die Klägerinnen begehren, die Beklagte schuldig zu erkennen, die konkrete Gefährdung ihres Lebens bzw ihrer Gesundheit durch radioaktive Immissionen, die durch die hohe Unfall- und Störfallgefahr des AKW in absehbarer Zukunft und mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen, zu unterlassen; die Beklagte sei weiters schuldig, durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass das Eigentum der Erstklägerin bzw die obligatorischen Rechte der Zweitklägerin nicht durch das AKW derart konkret gefährdet werden, dass durch die hohe Unfall- und Störfallgefahr des Atomkraftwerks in absehbarer Zukunft und mit einiger Wahrscheinlichkeit die ortsübliche Nutzung durch radioaktive Immissionen wesentlich beeinträchtigt wird. Das AKW stelle beim Betrieb eine akute Gefährdung dar; ein schwerer Unfall sei wahrscheinlich. Es enspreche nicht dem gebotenen Standard an Betriebssicherheit. Der Unterlassungsanspruch ergebe sich aus den §§ 364, 16 ABGB. Die Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Gefahr seien umso geringer anzusetzen, je höherwertiger und schutzwürdiger die bedrohten Rechtsgüter seien. Die slowakische Genehmigung für den Betrieb des AKW entfalte keine Tatbestandswirkung iSd § 364a ABGB.
Die Beklagte, die sich am Beweisverfahren nicht beteiligte, beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Das AKW sei bereits in Betrieb und habe bisher störungsfrei gearbeitet. Von einer unmittelbar drohenden Beeinträchtigung durch Immissionen könne nicht die Rede sein; es bestehe daher kein vorbeugender Unterlassungsanspruch. Das Urteilsbegehren sei unbestimmt und unzulässig. Es sei nicht nachvollziehbar, welche Handlungen oder Unterlassungen die Klägerinnen von der Beklagten forderten.
Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, die Gefährdung des Lebens bzw der Gesundheit der Klägerinnen durch radioaktive Immissionen aus dem AKW zu unterlassen sowie durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass radioaktive Immissionen auf die Wohnungen der Klägerinnen unterbleiben.
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab.
Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil zweiter Instanz auf und trug dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung der beklagten Partei in Erledigung deren Beweisrüge auf. Er erläuterte die Anwendbarkeit österreichischen Rechts, Fragen der Beweislast und den für die Beurteilung der (relativen) Sicherheit eines AKW maßgebenden Standard. Ein (vorbeugender) Unterlassungsanspruch sei – ungeachtet der slowakischen Betriebsanlagengenehmigung – jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn auf Grund der Konstruktion oder des Zustands des AKW gegenüber Anlagen “westlichen“ Standards ein deutlich erhöhtes Störfallrisiko bestehe. Insofern erörterte er abschließend auch jene Tatsachen, die für einen Erfolg des Unterlassungsbegehrens feststehen müssten.