Präzisierung der Rechtsprechung zum „Blindentestament“
Zur Erfüllung der Formvorschrift, wonach die Zeugen den Inhalt der letztwilligen Verfügung eingesehen haben müssen, genügt die bloße Möglichkeit zur Einsichtnahme nicht.
Die Erblasserin war stark sehbehindert und konnte daher eine fremdhändige letztwillige Verfügung nur unter Beachtung der besonderen Formvorschriften des § 581 ABGB aF (nunmehr § 580 Abs 2 ABGB) gültig errichten.
Im August 2015 las eine der drei Zeuginnen das aus fünf Punkten bestehende, auf einer A4-Seite Platz findende Testament wortwörtlich vor. Die anderen beiden anwesenden Zeuginnen unterschrieben das Testament, ohne es zuvor zu lesen oder den Inhalt des Schriftstücks in irgendeiner Weise zu kontrollieren.
Die Vorinstanzen gingen von der Unwirksamkeit der letztwilligen Verfügung aus, weil die bloße Möglichkeit zur Einsichtnahme zur Erfüllung der Formvorschrift nicht ausreiche.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung.
Nach § 581 ABGB aF muss sich der Erblasser, wenn er nicht lesen kann, den Aufsatz von einem Zeugen in Gegenwart der anderen zwei Zeugen, die den Inhalt eingesehen haben, vorlesen lassen und bekräftigen, dass derselbe seinem Willen gemäß sei. Diese Vorschrift wurde mit geringen sprachlichen Änderungen in das neue Erbrecht übernommen (nunmehr § 580 Abs 2 ABGB).
Der Senat setzte sich mit der bisherigen, nur spärlich vorhandenen und überwiegend noch aus der Kaiserzeit stammenden Rechtsprechung zu dieser Bestimmung sowie den unterschiedlichen Lehrmeinungen auseinander und kam nach Abwägung aller Argumente zu folgendem Schluss:
Die bloße Möglichkeit von Zeugen zur Einsichtnahme in das fremdhändige Testament eines Erblassers, der nicht lesen kann, reicht zur Erfüllung der Formerfordernisse nach § 581 ABGB aF nicht aus. Auch wenn der Gesetzeszweck keine Kontrolle Wort für Wort gebietet, so ist von den Zeugen doch wenigstens eine überblicksartige Kontrolle der von ihnen unterfertigten letztwilligen Verfügung zu verlangen. Diese Kontrolle muss es den Zeugen zumindest ermöglichen, einen sinnerfassenden Abgleich des Vorgelesenen mit der zu unterfertigenden Urkunde in den zentralen Punkten – insbesondere der Erbseinsetzung – vorzunehmen.
Im Anlassfall erfolgte nach den Feststellungen gar keine Kontrolle des Inhalts. Es lag auch kein Fall vor, in dem ein „kurzer Blick“ auf die Urkunde genügt hätte, um deren wesentlichen Inhalt zu erfassen. Das Testament war daher formungültig.