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Verletzung der Schulpflicht kann Kindeswohl gefährden

 
 

Wenn Eltern ihr schulpflichtiges Kind nicht in die Schule schicken und das Kind dadurch erhebliche Wissenslücken aufweist, gefährden sie dessen Wohl, was die (teilweise) Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger erforderlich machen kann.

Der 13-jährige Sohn eines Ehepaares hat noch nie eine Schule besucht. Seine Eltern hängen dem pädagogischen Konzept des „Freilernens“ an. Danach wird ein Schulbesuch grundsätzlich abgelehnt, weil davon auszugehen sei, die Kinder könnten sich „die Welt“ und das notwendige Wissen selbst spielerisch aneignen und müssten dabei von ihren Eltern nur unterstützt werden, ohne dass bestimmte Lerninhalte vorgegeben werden. Die Eltern kümmern sich – abgesehen von den schulischen Belangen – intensiv um ihr Kind. Der Sohn legte nur für den Stoff der 1. und 2. Klasse Volksschule erfolgreich die Externistenprüfung ab, die jährlich für jene schulpflichtigen Kinder verpflichtend ist, die – legal – vom Schulbesuch abgemeldet wurden und am häuslichen Unterricht teilnehmen. Weitere Externistenprüfungen legte der Sohn nicht ab, weil die Eltern mittlerweile auch dies ablehnen. Während sein Wissen und seine Fertigkeiten in manchen Gebieten überdurchschnittlich sind, weist er in anderen, etwa dem Allgemeinwissen, große Lücken und Rückstände auf. Bei den Kulturtechniken, die die Schule vermittelt, ist er auf dem Stand der 2. Klasse Volksschule. Es ist nicht wahrscheinlich, dass er diese Defizite leicht und schnell beseitigen wird können. Die Eltern wurden bereits zu (geringen) Geldstrafen wegen Verletzung der Schulpflicht verurteilt.

Der Stadtschulrat für Wien beantragte gemäß § 181 ABGB beim Pflegschaftsgericht, den Eltern wegen des zu befürchtenden Bildungsverlusts des Kindes die Obsorge zu entziehen.

Das Erstgericht trug den Eltern auf, für die Ablegung der ausständigen Externistenprüfungen zu sorgen. Das Rekursgericht übertrug die Obsorge für den Sohn im Bereich der Vertretung in schulischen Angelegenheiten vorläufig von den Eltern auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger. Die Maßnahme des Erstgerichts sei nicht ausreichend.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte den Beschluss des Rekursgerichts mit der Maßgabe, dass er die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung in schulischen Angelegenheiten und damit auch der Vertretung in diesem Bereich vorläufig von den Eltern auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertrug. Weiters trug er den Eltern auf, mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger bei der Erfüllung von dessen Pflicht, die Wissenslücken des Kindes zu beseitigen, zu kooperieren. Der Oberste Gerichtshof betonte wie die Vorinstanzen, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl ihres Kindes gefährden. Die Gefährdung des Kindeswohls liegt nicht nur in den Wissenslücken, sondern auch im Fehlen von Nachweisen über Schulabschlüsse, wodurch das Kind in seinen künftigen Entwicklungsmöglichkeiten (Studium, Berufsausbildung) erheblich beeinträchtigt wird.

Am Kinder- und Jugendhilfeträger liegt es nun, in Absprache mit den Schulbehörden ein Konzept zu erarbeiten, wie die geschilderten Defizite beseitigt werden können. Die vom Kinder- und Jugendhilfeträger angeregte Übertragung der gesamten Obsorge im Rahmen der „vollen Erziehung“ kommt aber derzeit nicht in Betracht, weil, von den schulischen Belangen abgesehen, eine Gefährdung des Kindeswohls nicht vorliegt. Sollten aber die Eltern mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger nicht kooperieren, könnte dies  künftig den gänzlichen Entzug der Obsorge im Rahmen der vollen Erziehung notwendig machen.

Zum Volltext im RIS.

 
ogh.gv.at | 15.11.2024, 13:11
(https://www.ogh.gv.at/entscheidungen/entscheidungen-ogh/verletzung-der-schulpflicht-kann-kindeswohl-gefaehrden/)

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