Verfassungswidrige Regelungen im Familienrecht?
Der Oberste Gerichtshof beantragt beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung von Bestimmungen des ABGB zur Zuteilung der Obsorge bei Verhinderung der Eltern.
Können die Eltern die Obsorge aus welchem Grund auch immer nicht ausüben, sieht § 178 Abs 1 ABGB vor, dass das Gericht in erster Linie Groß- oder Pflegeeltern mit der Obsorge zu betrauen hat. Nur wenn niemand aus diesem Kreis betraut werden kann, ist nach § 204 ABGB eine andere geeignete Person zu betrauen. Auf dieser Grundlage hatte der Oberste Gerichtshof folgenden Fall zu beurteilen:
Die Eltern konnten die Obsorge aufgrund prekärer Familienverhältnisse nicht ausüben. Großeltern standen nicht zur Verfügung, ein vom Kinder- und Jugendhilfeträger ausgewähltes Pflegeelternpaar war grundsätzlich geeignet. Allerdings hätte das Kind bei den – 1954 bzw 1956 geborenen – Urgroßeltern, die ebenfalls zur Übernahme der Obsorge bereit waren, die besseren Entwicklungschancen; aus kinderpsychologischer Sicht wäre die Obsorge der Urgroßeltern vorzuziehen. Die Vorinstanzen wiesen die Obsorge trotzdem den Pflegeeltern zu: Da diese grundsätzlich geeignet seien, müssten sie nach § 178 Abs 1 ABGB zwingend mit der Obsorge betraut werden, eine bessere Eignung Dritter – hier also der Urgroßeltern – könne daran nichts ändern.
Der Oberste Gerichtshof nahm ebenfalls an, dass die Urgroßeltern wegen des in § 178 Abs 1 ABGB angeordneten Vorrangs der Pflegeeltern nicht mit der Obsorge betraut werden könnten. Er war jedoch der Auffassung, dass diese Rechtslage gegen Art 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern verstößt. Danach hat
„jedes Kind […] Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen“; bei „allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“
Das starre Rangverhältnis, das sich aus § 178 Abs 1 und § 204 ABGB ergibt, verhindert die damit geforderte Beachtung des konkreten Kindeswohls. Daher stellte der Oberste Gerichtshof den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge einzelne Wortfolgen dieser Bestimmungen aufheben, um den Gerichten zu ermöglichen, die im konkreten Fall beste Lösung für die betroffenen Kinder zu finden.